Was ist Notfallpsychologie?
Jede und jeder von uns wird im Laufe seines Lebens sehr wahrscheinlich mit einem oder mehreren Notfällen konfrontiert. Ob als Betroffene oder Betroffener, Helferin oder Helfer oder Zeugin oder Zeuge, ob im schulischen, beruflichen oder privaten Kontext – die Zahl der Möglichkeiten ist unüberschaubar. Glücklicherweise sind diese Notfälle die Ausnahme und in unserer Gesellschaft stehen zahlreiche institutionelle Hilfsangebote in Form von Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienst usw. zur Verfügung. Neben körperlichen und materiellen Folgen können Notfälle aber auch vorübergehende bis hin zu dauerhaften psychischen Folgen haben. Zum einen führen sie kurzfristig zu einer akuten Stressreaktion in Form von belastenden Gedanken, starken Gefühlen, Verhaltensweisen und Körperreaktionen. Zum anderen können sich Notfälle auch langfristig auf unsere Gedanken, Gefühle und die Wahrnehmung unserer Umwelt auswirken. Diese psychischen Folgen sind oftmals für Außenstehende nicht ersichtlich und auch die Betroffenen selbst erleben eine Überforderung damit. Um mit diesen Folgen besser umgehen zu können, bietet sich notfallpsychologische Unterstützung an.
Notfallpsychologie umfasst somit im engeren Sinne die psychologische Unterstützung von Einzelpersonen oder Gruppen in der Zeit nach einer Not- oder Krisensituation. Im weiteren Sinne ist Notfallpsychologie ein Anwendungsgebiet der Psychologie, welches die Wissenschaft vom Erleben, Verhalten und mentalen Prozessen ist. Notfallpsychologie umfasst somit alle psychischen Aspekte, die mit Not- und Krisensituationen zusammenhängen. In Abgrenzung zur klinischen Psychologie (und somit auch zur Psychotherapie) setzt die Notfallpsychologie vor dem Auftreten oder der Manifestation einer psychischen Erkrankung an und ist somit präventiv und salutogenetisch, d.h. auf die Gesunderhaltung ausgelegt. Zudem müssen Not- und Krisensituationen nicht automatisch zu psychischen Erkrankungen führen.
Das Ziel der notfallpsychologischen Arbeit ist also die Unterstützung und das Schaffen von idealen Voraussetzungen zur Gesunderhaltung von direkt oder indirekt Betroffenen in Not- und Krisensituationen.
Was sind Notfälle, Traumata und Krisen?
Notfälle sind plötzlich und unvorhergesehene Situationen und Ereignisse, die das Funktionieren eines Systems (ökologisch, technisch, physiologisch, usw.) akut gefährden. Normale Abläufe und Funktionen sind dann nur eingeschränkt möglich oder vollständig unterbrochen. Des Weiteren werden für eine Abwendung oder Bewältigung in einem hohen Maß Ressourcen (materiell, personell, kognitiv, usw.) benötigt.
In der Notfallpsychologie sind diese Notfälle typischerweise Unfälle, Gewaltereignisse (Überfälle, Bedrohungen, Angriffe usw.) oder Katastrophen, die einzelne Personen oder Gruppen betreffen. Dabei können direkt Beteiligte ebenso betroffen sein wie Zeug:innen oder Helfer:innen. Im Gegensatz zu technischen Systemen muss kein direkter Zusammenhang zwischen Belastung und Schädigung bestehen, da jeder Mensch individuell auf Extremsituationen reagiert. Dieser Aspekt wird oftmals übersehen, sodass z.B. belastete Mitarbeitende ihre Arbeit fortsetzen sollen oder keine Hilfe und Anerkennung erfahren. Im notfallpsychologischen Kontext zeigt sich häufig, dass eine nach Tagen auftretende Problematik nicht nur durch das Ereignis selbst, sondern auch durch die (ausbleibenden) Reaktionen im Umfeld entstanden ist oder zu einer Verschlimmerung beigetragen hat.
Im Zusammenhang mit psychischen Belastungen finden sich noch die Begriffe Trauma und Krise. Während der Begriff Trauma im allgemeinen Sprachgebrauch sehr weit gefasst ist, meint dieser nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsproblemen (ICD-11) ausschließlich Ereignisse von extrem bedrohlicher oder entsetzlicher Natur. Der Begriff ist also auf besonders schwerwiegende Notfälle begrenzt. Psychologische Krisen demgegenüber sind zeitlich ebenfalls begrenzt, extrem belastend und psychisch überfordernd, müssen jedoch nicht plötzlich auftreten und können gewollt bzw. geplant sein. Beispiele wären eine Scheidung, eine schwere Erkrankung oder Mobbing am Arbeitsplatz. Dennoch sind Notfälle und Krisen nicht immer trennscharf, zumal ein Notfall auch zu einer (Lebens)krise führen kann oder im Kontext einer Krise ein Notfall entstehen kann. Ein Einordung und die daraus abgeleitete sinnvollste Hilfe ist immer im Einzelfall zu entscheiden.
Welche Möglichkeiten der notfallpsychologische Unterstützung gibt es?
Die notfallpsychologische Unterstützung ist höchst individuell und richtet sich nach dem Zeitpunkt und der Lage. Bei der psychischen Reaktion auf einen Notfall handelt sich grundsätzlich um eine natürliche Reaktion auf ein außergewöhnliches Ereignis. Diese kann für Betroffene aber überwältigend sein und zu ungünstigen Verhaltensweisen führen. Unmittelbar nach dem Not- oder Krisenfall können daher im Rahmen einer Akutintervention entlastende Gesprächsangebote den Betroffenen helfen einen Umgange mit der individuellen Stressreaktion (Gedanken, Gefühle, Verhalten, Körper) zu finden.
Die Beratung von Angehörigen, Firmen, Vereinen etc., wo sich das Ereignis zugetragen hat, gehört ebenfalls zu den ersten notfallpsychologischen Maßnahmen. Die Beratung umfasst dabei sowohl den Umgang der Institutionen mit den Betroffenen, als auch den Umgang mit dem Ereignis selbst.
In den nächsten Tagen und Wochen nach dem Notfall können ebenso Einzel- und Gruppenangebote realisiert werden. Dabei geht es darum die Betroffenen zu unterstützen hilfreiche Strategien zu entwickeln (Coping) und ungünstiges Verhalten zu erkennen und einzugrenzen. Dabei greift die Notfallpsychologie auf bewährte und wissenschaftliche fundierte Techniken aus Beratung und Therapie zurück. Im weiteren Verlauf zeigt sich auch, welche Betroffenen stärker belastet sind und weitere Unterstützung benötigen. Bei einer Stagnation oder fortschreitenden Verschlechterung werden Empfehlungen für das Aufsuchen weiterführender psychotherapeutischer und ärztlicher Behandlungen ausgesprochen. Notfallpsychologie ist nicht die Behandlung psychischer Erkrankungen – auch nicht von Traumafolgestörungen.
Der letzte Teilbereich der Notfallpsychologie sind primärpräventive Angebote in Form von Vorträgen und Workshops bevor es überhaupt zu Notfall- oder Krisensituationen kommt. Ebenso ist die Ausbildung betrieblicher psychologischer Ersthelfer:innen Teil der Notfallpsychologie.
FAQ
Hier finden Sie eine Übersicht häufig gestellter Fragen.